cloud88 hat geschrieben: ↑Mi 26. Jun 2024, 19:55
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Deswegen bin ich der Meinung der Kader muss auf ein Grundprinzip ausgerichtet sein und ein Trainer mit diesem Arbeiten können und wollen. [...]
Ich teile Deine Einschätzung zu den einzelnen Spielern nahezu komplett. Auch stimme ich Dir zu, dass wir deutlich mehr Struktur und Kontinuität brauchen.
Was dieses Grundprinzip angeht, bin ich aber komplett bei sw und Ignazius: Das ist aus mehreren Gründen - und das meine ich kein bisschen böse - komplett unrealistisch.
1. Man muss ganz klar sehen, dass das eine langfristige Strategie wäre, die wie jede langfristige Strategie tendenziell erst langfristig voll zur Geltung kommt (siehe etwa die Vorstellung, das Grundprinzip schon in die Jugendarbeit zu integrieren). Das ist das allerwichtigste und fast alle weiteren Kritikpunkte leiten sich von dieser Einsicht ab.
2. Entweder man macht nur eher grobe Vorgaben. Dann verdient es den Namen Grundprinzip nicht. Oder man macht sehr spezifische Vorgaben. Mehr als nur eine Grundformation, weitere Festlegungen: etwa auf Ballbesitzfußball, Gegenpressing einen bestimmten Typ Mittelstürmer u.v.m. Dann wird es ein enges Korsett. Das ist der zweite Punkt, von dem sich viele weitere ableiten: Man schränkt sich sehr stark ein.
3. Wer legt das System zum Grundprinzip fest? Sahin, weil er jetzt gerade Trainer ist? Dann würde ein unerfahrener Trainer unser Grundprinzip für die nächsten Jahre unsere langfristige Strategie fest. Wer sont? Oft heißt es ja, das müsse "von oben" kommen. Sollen dann Watzke, Ricken oder Kehl das festlegen? Die von Taktik sicher weniger Ahnung haben?
4. Wie lässt sich überhaupt sinnvoll eine Entscheidung von solcher Tragweite treffen? Woher wissen wir jetzt, welches System so gut ist, dass wir damit die kommenden Jahre spielen wollen? Dein Ansatz z.B. richtet sich offensichtlich am vorhandenen Personal aus. Das ist ja auch der übliche Ansatz. Aber wenn man Deine Idee Ernst nimmt, kann man so nicht verfahren. Dann müsste man abstrakt das Grundprinzip festlegen und dann das gesamte Personal umbauen, bis es zum Grundprinzip passt. Sonst ist es nichts halbes und nichts ganzes.
5. Was ist, wenn sich herausstellt, dass das Grundprinzip doch nicht das Wahre ist? Lass die Dreierkette oder das 4-3-3 aus der Mode kommen, egal was. Es gibt schöne Artikel dazu, dass die "meta" oft in Zyklen verläuft. Was ist, wenn eine neue Spielidee plötzlich auftrumpft. Wir haben uns dann ja bewusst langfristig auf etwas anderes festgelegt.
6. Was ist, wenn es dann mit dem Trainer nicht passt? Wiederum: egal aus welchem Grund. Man kann ja jetzt schlecht dem neuen Trainer das System vorgeben. Das wäre absurd, das würde auch keiner mitmachen. Dann bleibt nur eine Alternative: Man beschränkt die Trainersuche auf Trainer, die mehr oder weniger zufällig eine übereinstimmende Philosophie haben. Nur: Der Trainermarkt ist eng genug. Soll man jetzt unter den regelmäßig wenigen Kandidaten auch noch 90% aussortieren, weil sie halt ein anderes System präferieren. Überspitzt: Was ist, wenn Klopp sich plötzlich nochmal ein Engagement hier vorstellen kann? Macht man das dann nicht, weil Nuri oder wer auch immer 2024 eine andere Spielidee vorgegeben hat? Im Kleinen gilt das auch für die Jugendarbeit. Da muss man dann auch Trainer finden, die hinter dem System stehen, obwohl gute Jugendtrainer auch so schon nicht an Bäumen wachsen. Natürlich kann man die Grundidee ad infinitum weiterführen und sagen: Dann bilden wir unsere Jugendtrainer schon so aus, aber dann wird das Korsett einfach nur enger und die Langfristigkeit noch längerfristig.
7. Was nützt die Integretation des Grundprinzips in die Jugend, wenn die Spieler dort nicht das Niveau für einen CL-Teilnehmer haben? Es gibt eine endlos lange Liste von Spielern aus unserer Jugend, auf denen große Hoffnung ruhten und die jetzt im Mittelmaß der zweiten Liga kicken. Die hätten den Sprung jetzt im Zweifel auch nicht geschafft, wenn man sie frühzeitig in ein Korsett gepresst hätte. Ein Passlack, Burnic, Collins, usw. sind ja nicht daran gescheitert, dass man ihnen nicht das zum Verein passende Grundprinzip eingeimpft hat. Und die Spieler, die uns vielleicht durchgerutscht sind (Führich), sind uns im Zweifel durchgerutscht, weil man ihr Potenzial falsch eingeschätzt hat.
8. Umgekehrt gilt das gleiche: Wenn jemand aus der Jugend kommt, der eindeutig die nötige Qualität hat, setzt der sich schon durch, egal unter welchem Trainer und unter welchem System. Falls nicht, liegt das im Zweifel an anderen Gründen (der Trainer schafft es nicht so, Nachwuchs zu integrieren oder was auch immer). Und: Was ist, wenn man ein Megatalent hat, das nicht ideal zum Grundprinzip passt? Sagen wir, wir haben in der U17 einen 10er mit dem Potenzial zur Weltklasse. Wir spielen aber 4-3-3 mit zwei Achtern. Presst man den jetzt auf Gedeih und Verderben ins Korsett und schult ihn zum Achter um? Den wirbt dann garantiert ein Verein ab, der ihm die gewünschte Perspektive bieten kann und will.
9. Wo ist die Flexibilität? Wie oft haben wir uns in der Vergangenheit gewünscht, dass Terzic mal ernsthaft die Taktik am Gegner ausrichtet? "Ah die spielen so und so, dagegen kann man gut mal mit einer Dreierkette antreten!" Oder im Spiel umstellt. Das wäre ja auch einem Ansatz diametral entgegengesetzt, der vor allem darauf gerichtet ist, sich auf ein System festzulegen. Der vielleicht spannendste Trainer der Welt ist da ein tolles Beispiel: Xabi Alonso. Der wechselt zwischen Dreier- und Viererkette. Da gibt es auch nicht diese festen Rollen, der überrascht auch mal (erfolgreich) mit Grimaldo oder Frimpong als Stürmer im 4-3-3. Das sind auch Dinge, für die in der Theorie mit dem Grundprinzip wenig bis gar kein Platz ist.
Wie gesagt: Ich wünsche mir auch mehr Kontinuität, etwas weniger kurzfristiges Denken. Aber diese radikale Version halte ich für eine schöne Idee, aber nicht für ernsthaft umsetzbar. Das macht auch niemand so und dafür gibt es Gründe.